Die Realität für Betroffene

Wohnraum für Menschen mit herausforderndem Verhalten und Assistenzbedarf – unser subjektiver Eindruck.

Wie ist es denn nun wirklich um den Lebensraum für Betroffene bestellt?
Fakt ist: Oft suchen sie bzw. ihre Angehörigen jahrelang nach einem geeigneten Lebensort. Wir beispielsweise sind seit Jahren gänzlich erfolglos auf der Suche nach einer gut passenden Unterbringungsalternative für unseren Sohn.
Status Quo: Es gibt tatsächlich keinen Platz, vor allem aber gibt es keinerlei Auswahlmöglichkeit!

Auch Menschen mit herausforderndem Verhalten sind Individuen, und so, wie uns selbst nicht jeder Wohnort oder jede Wohngemeinschaft gefällt, ist das bei dieser besonders sensiblen Menschengruppe eben auch.
Jeder Mensch möchte selbstbestimmt aussuchen können, mit wem er zusammenlebt. Für Menschen mit herausforderndem Verhalten scheint diese Option nicht zu existieren, eine freie Entscheidung in Sachen „Selbstbestimmung über den Lebensort“ wird verwehrt. Ihnen wird bestenfalls Lebensraum zugewiesen.
Kommt es in diesen unfreiwilligen Lebensraum-Konstrukten dann zu Konflikten und Aggression zwischen Betroffenen und Betreuenden, sind Verwunderung und Bestürzung groß.

Zum Thema „Herausforderndes Verhalten“ ein kleines Gedankenspiel:

Wie würde es Ihnen gehen, wenn Sie mit jemand zusammenleben müssten, der unkontrolliert laute Töne und Schreie von sich gibt und Sie sich aufgrund Ihres empfindsamen Hörsinns belästigt fühlen, der verursachenden Person allerdings nicht aus dem Weg gehen können? Wenn Sie mehrfach versuchen würden, ihren Unmut mitzuteilen, Sie aber niemand verstehen würde. Würden Sie nicht auch mit der Zeit aggressiv und ungehalten werden? Vielleicht etwas zerstören, um Ihren Druck und Ihre Wut loszuwerden? Wie würden Sie auch Ihre Not aufmerksam machen?

Und wie würde es Ihnen gehen, wenn Ihre innere Not gänzlich unbemerkt und somit ignoriert bleibt und die einzige Reaktion auf Ihr Verhalten eine Fixiermatte, die totale Isolation im sogenannten Time-out-Raum oder aber eine medikamentöse Behandlung in Form von „Runterspritzen“ wäre? Ihre Handlung muss defacto unterbleiben, Ihre innere Not ist aber nach wie vor präsent…. Sie würden sich doch auch vollkommen ohnmächtig, hilflos und verzweifelt fühlen. Sie werden traumatisiert und ein negativer Kreislauf beginnt.
Die nächste kritische Situation kann sich durchaus verändert darstellen, nämlich so, dass jemand lediglich laut spricht, Sie aber damit sofort eine Assoziation zur letzten Fixierung bekommen (Fixierung bedeutet totale Bewegungslosigkeit, nicht einmal ein Sich-an-der-Nase-Kratzen ist möglich). Das laute Reden erzeugt in Ihnen entsetzliche Angst, Todesangst, Sie wollen nur, dass das Gefühl aufhört, es muss aufhören, weil Sie sonst sterben. Dann schlagen Sie zu. Unverständlich? Nein! Denn Sie sind durch den sogenannten „Trigger“,  das laute Reden,  in das Trauma zurückgefallen.

Ein derartiger Kreislauf darf keinesfalls entstehen:

  • Herausforderndes Verhalten führt zu freiheitsentziehenden Maßnahmen
  • Freiheitsentziehende Maßnahmen führen zu Trauma
  • Trauma führt wiederum zu herausforderndem Verhalten

Dieser Kreislauf muss vermieden und unterbunden werden, um langfristig eine Reduzierung des herausfordernden Verhaltens zu erreichen.

 

Das Finden eines Lebensraums zum Wohnen und Arbeiten – eine unlösbare Aufgabe

Grundsätzlich einen geeigneten Wohnort für Menschen mit herausforderndem Verhalten zu bekommen, ist schwierig genug. Aber dann noch einen Platz zu finden, wo der Betroffene einer sinnstiftenden Tätigkeit nachgehen kann, gefühlt unmöglich. Letztendlich müsste sich der Lebensraum für Betroffene so darstellen, dass sie die Möglichkeit haben, ihr herausforderndes Verhalten zu reduzieren. Die Realität lässt das aktuell meist (noch) nicht zu.
Wir gehen davon aus, dass jeder, der in einer Einrichtung arbeitet, sehr bemüht ist, das Beste für seine Klienten zu wollen. Aber wir glauben auch, dass dies oft aus Zeit- und Personalmangel nicht möglich ist. Diese Tatsache und die daraus resultierenden Umstände sind für ein Land wie Deutschland schlicht und einfach skandalös.

 

Die baden-württembergische KVJS-Studie aus 2019 sagt zur Lebenssituation von Menschen mit herausforderndem Verhalten und Assistenzbedarf Folgendes:

Auf den Seiten des Kommunalverbandes für Jugend und Soziales Baden-Württemberg kann man die Ergebnisse zu dem KVJS-Forschungsvorhaben „Menschen mit geistiger oder mehrfacher Behinderung und sogenannten herausfordernden Verhaltensweisen in Einrichtungen der Behindertenhilfe in Baden-Württemberg“ nachlesen, erstellt von der Universität Halle-Wittenberg unter Leitung von Herrn Prof. Dr. Georg Theunissen.
https://www.kvjs.de/fileadmin/publikationen/Forschung/Herausforderndes_Verhalten_Internet.pdf

Einige relevante Punkte aus dem Studienergebnis sind:

  • Lebensortsuche: „… Betroffene finden nicht immer passende Angebote und eine Platzsuche gestaltet sich oft sehr schwierig und langwierig. … In der Folge der schwierigen Platzsuche sind die Klienten, ihre Angehörigen und teilweise weitere, am Unterstützungsprozess beteiligte Menschen, erheblichen Belastungen ausgesetzt.  Eine Unterstützung der Betroffenen kann aufgrund fehlender verfügbarer Angebote meist nur in heimatfernen Settings erfolgen… Betroffene Menschen, für die im Bundesland keine verfügbaren Angebote gefunden werden können, werden vereinzelt sogar im Ausland unterstützt.“
  • „Für nicht wenige Betroffene hat das Leben in einer LIBW ‚gefängnisartigen‘ Charakter.“ (Anm.: LIBW = Langfristig intensiv betreutes Wohnen)
  • „In den meisten Sondergruppen ist zu wenig Personal im Dienst.“
  • Durch die übliche Konzentration der Betroffenen in Sondergruppen kommt es zu negative Gruppeneffekte.

Das heißt letztendlich: Unser subjektiver Verdacht als Betroffene wird durch die Studie bestätigt. Wenig Plätze, unpassende Plätze und die Isolierung in Sondergruppen führt zur Verstärkung des herausfordernden Verhaltens.