Tatsachenberichte von Betroffenen zum Thema FEM

Die Definition von freiheitsentziehenden Maßnahmen (FEM) legt fest, welche Maßnahmen zum Einsatz kommen. Wie sich die tatsächliche Anwendung dieser Maßnahmen auf Psyche und Seele von Betroffenen und deren Angehörige auswirken, liegt außerhalb jeder Definition. Um einen Einblick in die erschreckende Realität zu geben, sammeln wir Tatsachenberichte, die hier nachzulesen sind.
Erfahrungsbericht einer Mutter mit FEM

Mein Name ist Jutta Kossat und ich schildere hier nun meine persönliche Wahrnehmung und Erfahrung, meine eigene gedankliche Entwicklung zum Thema freiheitsentziehende Maßnahmen – kurz FEM – und möchte zum „Hinschauen“ ermutigen.

Ich bin Ärztin, Ehefrau und Mutter zweier Söhne. Die Diagnosen für meinen 25-jähiger Sohn lauten Autismus-Spektrum und posttraumatische Belastungsstörung. Diese ist zurückzuführen auf acht Jahre freiheitsentziehende Maßnahmen in einer deutschen Behinderteneinrichtung.
Die Pubertät meines Sohnes war geprägt von Zwängen, Depression, Ängsten sowie einem herausforderndem Laufdrang. Trotz aller familiären Bemühungen war die Situation zu Hause ohne Hilfe nicht mehr schaffbar. Schweren Herzens von unserer Seite und von Seiten unseres Sohnes wechselte er am Ende seines 15. Lebensjahres in eine Heimsonderschule.
Während der ersten Woche in der Einrichtung gefährdete sich unser Sohn massiv selbst: Er war acht Stunden bei minus 15 Grad nachts alleine nur leicht bekleidet unterwegs. Daraufhin bat uns der Einrichtungsleiter, eine richterliche Genehmigung für einen Zimmereinschluss einzuholen.

 

Die drei Phasen meines Erlebens von FEM

Ich war schockiert. Anderseits aber auch abends gegen 22 Uhr erleichtert, weil ich wusste, er ist jetzt eingeschlossen und es kann ihm nichts passieren.
Aber im Laufe der Jahre, unser Sohn war acht Jahre in dieser Einrichtung, veränderte sich meine Einstellung und natürlich auch unser Sohn. Der Laufdrang war zu Hause gut zu handhaben und eine Selbstgefährdung war nie da.
Die anfängliche Erleichterung wich dem dumpfen Gefühl „Das ist nicht richtig“. Dieses dumpfe Gefühl begleitete mich die ganzen Jahre. Aber ich ließ mich immer wieder von den Fachkräften der Einrichtung mit einem „Das muss so sein, ihrem Sohn geht es gut damit“ beruhigen. Nicht nur die Einrichtung, auch mein persönliches Umfeld beruhigte mich immer wieder mit Sätzen wie „Du kannst nichts machen, so ist es halt, Du hast gemacht, was Du machen konntest.“ Trotzdem blieb das Gefühl immer da. Ich habe versucht, es zu verdrängen.
Die Verdrängung misslang dann vollständig, als unser Sohn, der nie weinen konnte, weinend am Ende der Ferien zu Hause auf dem Sofa lag und sagte: „Ich will da nicht mehr hin, ich will nicht mehr eingesperrt sein.“
Da wachte ich auf und konnte nicht mehr wegsehen. Und was ich sah, schockierte mich unendlich.

(Fotos: Dr. med. Jutta Kossat)

Unser Sohn war Monate in einem leeren Zimmer über 12 Stunden pro Tag komplett isoliert, ohne jeden menschlichen Kontakt, ohne Beschäftigungsmöglichkeiten, ab 23 Uhr ohne Licht. Für ihn eine Qual, da er immer Angst im Dunkeln hatte. Sechs Monate lang fanden diese Einschlüsse ohne richterliche Genehmigung statt.
Jeder Lösungsvorschlag von uns zur Änderung der Situation wurde von der Einrichtung abgelehnt. Wir hatten sogar vorgeschlagen, eine Nachtbereitschaft für unseren Sohn zu bezahlen – abgelehnt.

Das „Aufwachen“ hatte zur Folge, dass wir selbst aktiv wurden und momentan unser Leben darauf ausgerichtet haben, solche Zustände nie wieder zuzulassen.

FEM sind falsch, kontraproduktiv und massiv traumatisierend.
Heute weiß ich: Herausforderndes Verhalten ist ein Hilfeschrei der Betroffenen, ein Hinweis darauf, dass dem, was gerade geschieht, nicht mehr gefolgt werden kann.
Und ich weiß auch, dass freiheitsentziehende Maßnahmen keine Lösung für Menschen mit herausforderndem Verhalten sind.

 

Angehörigenbericht über die Anwendung von FEM

Ich bin Mutter einer betroffenen jungen Frau und möchte hier kurz meine Erfahrungen mit FEM schildern.

Unsere 24-jährige Tochter leidet unter folgenden Diagnosen: Autismus-Spektrum-Störung/Asperger Syndrom (festgestellt im Alter von 10 Jahren), paranoide Schizophrenie (diagnostiziert im Alter von 23 Jahren), leichte geistige Behinderung/Verhaltensstörung.
Große Angst begleitet unsere Tochter schon von Kindesbeinen an.
Seit frühester Jugend musste sie immer wieder in die geschlossene Psychiatrie eingewiesen werden. Dort wurde sie mehrfach fixiert. Wir haben mittlerweile viele verschiedene Psychiatrien und Stationen durchlaufen.

Ich habe zwei unterschiedliche Erfahrungen mit freiheitsentziehenden Maßnahmen gemacht.
In einer Klinik konnte ich miterleben, wie ich gemeinsam mit dem Klinikpersonal eine Fixierung tatsächlich verhindern konnte.
An anderer Stelle kam ich direkt zu einer 5-Punkt-Fixierung meiner Tochter hinzu.
Meine Tochter war auf einem Stuhl an Armen, Beinen und Bauch fixiert, als ich eintraf.
Sie hatte sich stark eingenässt, war verrotzt und total verzweifelt.
Eine zutiefst erniedrigende Situation. Man muss sich gewahr werden, dass eine 5-Punkt-Fixierung zu absoluter Bewegungslosigkeit führt. Meine Tochter teilte mir direkt mit, sie müsse zur Toilette. Ich konnte nichts unternehmen, und so musste sie sich erneut einnässen. Immerhin war es dann möglich, meiner Tochter Medikamente zu geben, die nach einiger Zeit Wirkung zeigten. Deshalb bat ich darum, die Fixierung – eventuell schrittweise – zu beenden. Diese Bitte wurde durch eine Person des Klinikpersonals abgelehnt.
Ich fragte nach, wie lang es noch dauernd würde, bis die Fixierung gelöst werden würde. Als Antwort bekam ich, dass es noch zwei Stunden dauern könne.
Eine für mich nicht nachvollziehbare Entscheidung. Mein Gefühl damals sagte mir, dass die 5-Punkt-Fixierung als eine Art erzieherische Maßnahme diente.
Die verantwortliche Person für diese Fixierung sprach dann auch noch die Empfehlung aus, dass ich als Mutter nicht mehr zu Besuch kommen solle, denn das würde ein besseres Ergebnis im Verhalten meiner Tochter bringen.

Eigentlich hatte ich mit meiner Tochter immer ein gutes Verhältnis. Ich konnte und kann es mit meinem Gewissen nicht vereinbaren, sie in dieser schrecklichen Verfassung alleine in der Klinik zu lassen. Zudem wäre sie damals ohne meine Besuche kaum an die frische Luft gekommen. Vermutlich wäre das alles in der Klinik mit mehr Personal, sprich mehr Beziehung bzw. Bindung ganz anders verlaufen.

Ohne dass ich jemandem direkte Schuld zuweisen möchte, muss ich sagen:
Diese Situation, die ich wirklich 1 zu 1 miterlebt habe, beeinflusst mein ganzes persönliches Leben bis heute. Und ich war „nur“ dabei.
FEM, besonders Fixierungen, sind für die betroffenen Menschen wirklich extrem und langfristig traumatisierend, dessen muss man sich bewusst sein. Sie haben große Auswirkungen.
Gleichzeitig möchte ich ausdrücklich erwähnen, dass wir auch mit sehr guten Ärzten und sehr gutem Klinikpersonal zusammenarbeiten durften und so großes Bemühen und ausgesprochene Kompetenz kennenlernen durften.
Dass es sich bei dieser Thematik um eine äußerst schwierige Sache handelt und man in eine psychische oder psychotische Explosion nicht eingreifen kann, dessen bin ich mir natürlich vollkommen bewusst. Manchmal ist eine Fixierung einfach nur das letzte verfügbare Mittel. Ich weiß auch, dass Ärzte und Klinikpersonal Schwerstarbeit verrichten müssen.
Dennoch verstehe ich eines nicht: Wenn sich abzeichnet, dass die Medikation in der Fixierung wirkt, warum muss man dann eine 5-Punkt-Fixierung noch längere Zeit. beibehalten?
Ganz sicher muss immer sehr individuell betrachtet, entschieden und gehandelt werden.
Ich prangere niemanden an, am besten ist, man macht sich selbst ein Bild.

Der Verfasser/die Verfasserin des Textes möchte gerne anonym bleiben. Uns sind die Daten dieser Person natürlich bekannt und wir haben die Genehmigung zur Veröffentlichung des Textes