Leben mit der Herausforderung: Erfahrungsberichte

Wie es sich für Betroffene, Angehörige oder Betreuende darstellt und anfühlt, mit "Herausforderndem Verhalten" direkt konfrontiert zu sein, das möchten wir hier anhand von Erfahrungsberichten transparent machen. Wenn Sie selbst eine Geschichte zu diesem Thema zu erzählen haben, nehmen Sie gerne Kontakt zu uns auf.
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Eine alleinerziehende Mutter berichtet

Ich bin Mutter einer geistig und mittelgradig körperlich behinderten Tochter und stelle hier zusammengefasst unsere Erfahrungen bezüglich Einrichtungssuche und Erfahrungen in stationären Einrichtungen im Laufe der durchlebten 40(!) Jahre dar. 
Die Situation ist dadurch erschwert, dass meine Tochter nur wenige Worte sprechen kann und nicht mit Worten artikulieren kann, wie es ihr geht oder was mit ihr geschehen ist.
Meine Tochter machte die Erfahrung, sowohl im Kindergarten als auch in der Schule willkommen zu sein. Kindergarten und Grundschulzeit verliefen für meine Tochter (und mich) harmonisch, wenngleich sie in der Grundschule schon die (im Nachhinein denke ich traumatische) Erfahrung machte, dass sich ein Junge aus ihrer Klasse, der ungefähr dreimal so viel Gewicht hatte wie meine Tochter, wie aus dem Nichts heraus sich in ihre Haare am Hinterkopf verbiss, so dass sie völlig wehrlos war, und große Schmerzen aushalten musste. Schließlich hatte sie dadurch eine kahle Stelle am Kopf. Meine Hilflosigkeit und Hemmung diesem Agieren des natürlich ebenfalls behinderten Jungen gegenüber führte dazu, dass ich nur zaghaft bei der Lehrerin, die das natürlich auch schlimm fand, für meine Tochter eintrat, bzw. die Situation zu klären, und mich damit zufrieden gab, dass sie mir versicherte, sie würde aufpassen (die erste schwere Konfrontation mit körperlicher Bedrohung).

Die Aufnahme als Jugendliche in eine Lebensgemeinschaft war eine positive Erfahrung. 
Wir hatten die Einrichtung eigentlich nur aus Interesse besichtigt, um für später vorzusorgen. Als ich dann zwei Tage nach unserem Besuch dort eine Einladung bekam und die Nachricht, dass meine Tochter sofort aufgenommen werden könnte, da alles gut passe, war ich in einem großen inneren Konflikt, da ich sie noch gar nicht weggeben wollte. Schließlich entschied ich mich doch dafür, weil uns die Einrichtung und die Gruppe sehr gut gefallen hatten. Die Zeit (von 14 Jahre bis 23 Jahre) in dieser Einrichtung verlief insgesamt sehr positiv für meine Tochter. Je nach MitarbeiterIn, die zuständig war, ging es manchmal sogar sehr gut und meine Tochter fand Freundschaften und entwickelte sich gut. Verhaltensauffälligkeiten wie Zwänge, z.B. immer durch eine bestimmte Türe gehen zu wollen, und dass sie bei Überforderung versuchte zu beißen oder zu schreien, wurden je nach Umgang der MitarbeiterIn heftiger oder blieb milde, weil ein Kompromiss gefunden werden konnte. Gegenzwang ließ die Situationen eher eskalieren. Dies war bekannt und wurde auch benannt, wurde als schwieriges Verhalten, aber nicht als außergewöhnlich schweres Problem eingeordnet.
Erst mit 23 Jahren, als es darum ging, eine „Erwachseneneinrichtung“ für meine Tochter zu finden, wurde ich mit der Tatsache konfrontiert, dass es sich als unglaublich schwer erwies, einen Platz für sie zu finden.
Wir besuchten sicher mehr als 30 Einrichtungen und mussten unsere „Ansprüche“ und Wünsche bezüglich des Umfeldes und der Art der Ansprache, die wir uns für unsere Tochter wünschten, sehr korrigieren. Es wurde mir erst zu diesem Zeitpunkt deutlich, wie schwer es für meine Tochter war, den Anforderungen zu genügen, sich sozusagen als Rädchen in das Uhrwerk des Alltags einzufügen und zu funktionieren. Der Unterschied war gewaltig. Statt in einer Dreier-Gruppe in der Jugendlicheneinrichtung sollte sie nun in einer Gruppe mit acht Betreuten und ein bis zwei Mitarbeiterinnen leben.
In der Einrichtung , die sie schließlich nach einem Probewohnen aufnahm, kam es dann zu massiven Überforderungen der Mitarbeiterin, die (entgegen der Vereinbarungen bei der Aufnahme, dass zwei Mitarbeiterinnen die Gruppe betreuen sollten) meist alleine für die Gruppe zuständig war, und die offensichtlich versuchte, mit Strenge und Bestrafungen wie Essensentzug, Einschließen und körperliche Übergriffe die Anpassung zu erreichen. Dies nahm schlimme Formen an und führte zu einer Traumatisierung meiner Tochter und am Ende zu einer schweren lebensbedrohlichen somatischen Erkrankung mit langwierigem Krankenhausaufenthalt.
Die Folge: Ängste, 10 Jahre massive Schlaflosigkeit und andere Symptome einer Posttraumatischen Belastungsstörung (PTBS). Lange Zeit war meine Tochter nicht mehr in der Lage, den Alltag in einer Einrichtung seelisch und körperlich zu bewältigen. Nach einem Jahr zu Hause, in dem ich als berufstätige Mutter die Betreuung selbst, mit Hilfe von Familie und Freunden, bewältigte, begann die erneute Suche nach einer neuen Einrichtung. Diese dauerte mehrere Jahre.
Die Verhaltensauffälligkeiten durch die PTBS, die Unruhe nachts, und die mangelnde Belastbarkeit, erschwerten ihre Chancen, einen Platz in einer Einrichtung zu bekommen massiv.
Sie war nicht in der Lage, den ganzen Tag eine Förderstätte zu besuchen. In einer Einrichtung muss sie das können, denn die Strukturen in den Einrichtungen sind so, dass tagsüber die Gruppen nicht besetzt sind, also muss jeder Betreute ganztags eine Förderstätte besuchen, auch wenn er davon völlig überfordert ist.
Die Probewohnsituationen waren insofern eine absolute Überforderung. Vertrauen hätte erst aufgebaut werden müssen, da die Situation in einer fremden Umgebung zu sein, massive Angstreaktionen auslöste.
Ein Teufelskreis.
Die Erfahrung war, dass der Umgang mit traumatisierten Menschen in den Einrichtungen fehlt, bzw. die Kenntnis, wie sich traumatisierte Personen verhalten, nicht da ist, und auch keine Erfahrung, dass Deeskalation und Beruhigung notwendig sind. Leider passierte häufig das Gegenteil, sodass es aus dieser Unwissenheit heraus zu Eskalationen kam. Die Probewohnsituationen zeigten, dass die manchmal unberechenbaren Reaktionen meiner Tochter und ihre mangelnde Belastbarkeit eine Integration unmöglich machten. Der Begriff „Herausforderndes Verhalten“ war mir bis dahin noch nicht geläufig. Ich konnte aber mit Hilfe dessen, was ich über Posttraumatische Belastungsstörung gelernt hatte, die Verhaltensweisen meiner Tochter besser verstehen und allmählich lernen, damit umzugehen.
Sie wurde schließlich im Alter von 31 Jahren vorübergehend in einer Einrichtung, die Erfahrung mit Betreuten aus dem Autismusspektrum hatte, aufgenommen. Da ich sehr verzweifelt war, wie es mit uns weitergehen könnte, und ich auch wieder als Alleinerziehende aus Existenzgründen voll in meine Arbeit einsteigen musste, war ich unendlich froh, dass sie dort einen Platz bekam, obwohl diese Einrichtung eigentlich für jüngere zu Betreuende zuständig ist. Es wurde deutlich, dass sie dort nicht hineinpasste, sondern weitere überfordernde, traumatisierende Situationen durch die Lautstärke und die extremen Verhaltensweisen der autistischen Mitbewohner entstanden. Um es etwas abzumildern und meiner Tochter dennoch etwas Halt zu geben, holte ich sie jedes Wochenende zu mir. Sie schützte sich selbst vor den beängstigenden Situationen, indem sie ihr Zimmer den ganzen Tag nicht verließ.

Schließlich konnten wir eine Einrichtung finden, in der sie nach jahrelanger schmerzlicher Eingewöhnungszeit nach mehreren Jahren innerlich ankommen konnte und wo sie sich bis heute befindet.
Hier erlebte ich zunächst Probleme im Umgang mit einer, meines Erachtens sehr lockeren Verschreibungsweise von Psychopharmaka und Schlaftabletten (die eine Beeinträchtigung der Motorik und  der psychischen Erlebnisqualität nach sich zog ) und ließ meine Tochter nicht mehr von den Ärzten der Einrichtung behandeln, sondern ich übernahm die Arztbesuche und die Auswahl der Ärzte selbst.
In der Einrichtung gibt es Mitarbeiter, die Fortbildungen zu Herausforderndem Verhalten und Deeskalationstrainings gemacht haben, und ihr Wissen versuchen, an andere MitarbeiterInnen zu vermitteln. Meine Tochter hatte Glück, dass in ihre Gruppe einer dieser Mitarbeiter arbeitete. Zusätzlich half ihr, dass durch die Corona -Situation keine Förderstätte stattfand. Förderstätte bedeutete für meine Tochter eine tägliche Überforderung, körperlich wie seelisch. Durch Corona konnten die MitarbeiterInnen die Erfahrung machen, dass meine Tochter, aber auch andere MitbewohnerInnen, die häufig extreme Unruhezustände, Selbstaggressionen und tagelanges Schreien zeigten, zur Ruhe kamen.
Dies ist noch ein zusätzlicher Hinweis, dass Überforderung bei Betreuten zu Symptomen führt, die bis dahin nicht als ein Zeichen von Überforderung erkannt worden waren, sondern in vielen Fällen mit Psychopharmaka „bekämpft“ wurden.

Vielleicht kann der Bericht dazu beitragen, differenzierter auf die Symptomatiken und deren Ursachen zu schauen, und dazu anregen, die Strukturen des Tagesablaufs einer Einrichtung zu überdenken und zu überprüfen, damit zu Betreuende nicht in das System eingepasst werden ­- mit der Folge von zum Teil schweren Verhaltensauffälligkeiten, die Ausdruck des Leidens des Betreuten an der überfordernden Situation darstellen, aber nicht als solches verstanden werden. Vielmehr könnte versucht werden, einen Lebensraum für die Betreuten zu schaffen, der ihnen erlaubt, mit den ihnen zur Verfügung stehenden Vorrausetzungen ein würdigeres, weniger leidvolles Leben zu führen. Das käme auch den MitarbeiterInnen einer Einrichtung zugute, da diese häufig dem aufgrund von Überforderung entstehenden Stress genauso ausgesetzt sind. Gerade in der aktuellen Corona-Situation wäre es hilfreich zu erleben, dass das Leben nun zufriedener und ruhiger für und mit den Betreuten verlaufen kann.

München den 03.05.2021

Der Verfasser/die Verfasserin des Textes möchte gerne anonym bleiben. Uns sind die Daten dieser Person natürlich bekannt und wir haben die Genehmigung zur Veröffentlichung des Textes