Posttraumatische Belastungsstörung (PTBS)

Die Folge von freiheitsentziehenden Maßnahmen

Wann geschieht eine Traumatisierung?

Eine Traumatisierung erfolgt, wenn eine vital bedrohliche Diskrepanz zwischen einer bestimmten Situation und ihrer Bewältigungsmöglichkeit erlebt wird. Sie geht einher mit Gefühlen von Ohnmacht, Hilflosigkeit, einer dauerhaften Erschütterung des Welt- und Selbstverständnisses.

„Geistig behinderte Menschen werden sich viel häufiger als nicht Behinderte in Situationen vorfinden, die sie nicht verstehen und nicht bewältigen können, die sie aber gleichwohl als existentiell bedrohlich erleben“ (Barbara Senckel, 2008).

Freiheitsentziehende Maßnahmen (FEM) können von geistig behinderten Menschen meist nicht verstanden werden, z.B. als logische Konsequenz ihres Handelns. Könnten sie FEM als logische Konsequenz ihres Verhaltens sehen, wäre es für sie verständlicher und damit leichter zu bewältigen. Aber dieses Verständnis fehlt ihnen zumeist und damit geraten sie in eine ohnmächtige Situation ohne geistig-seelische Bewältigungsmöglichkeit mit traumatisierender Wirkung.
Besonders gravierend wird diese Situation durch den Umstand, dass die freiheitsentziehende Maßnahme meist von Personen durchgeführt wird, zu denen die Betroffenen sonst Vertrauen haben. Situationen wirken eher traumatisierend, wenn sie von nahestehenden Personen erfolgen.

Die Hochschule Luzern befragte Leitungspersonen von Institutionen für Erwachsene mit kognitiven Beeinträchtigungen bezüglich „Freiheitsbeschränkenden Maßnahmen“, kurz FBM.
Zitat: „Rund 80 Prozent der Leitungspersonen gaben an, dass in ihren Einrichtungen in Eskalationssituationen FBM angewendet werden.“

Quelle: https://szsa.ch/ojs/index.php/szsa-rsts/article/view/235/210

Folgen einer Traumatisierung

Folgen einer Traumatisierung können vielfältig sein: von einer einfachen posttraumatischen Belastungsstörung (PTBS) über eine komplexe PTBS bis zur dissoziativen Störung. Die Zeichen können sofort oder nach Jahren auftreten.
Einfache PTBS: z.B. Schlafstörungen, Lernblockaden, Konzentrationsstörungen, Alpträume, Erinnerungslücken, Interesselosigkeit, innere Teilnahmslosigkeit, etc.
Komplexe PTBS: z.B. Impulskontrollstörung (Aggression), mangelnde Selbstberuhigung, riskantes Verhalten, dissoziative Störung (Entfremdungserleben „Das bin nicht ich“, Amnesie, Verlust von Zeitgefühl, innere Stimmen hören), Störung der Selbstwahrnehmung (unzureichende Selbstfürsorge), Störung in der Beziehung zu anderen (fehlende Empathie), negative Lebenseinstellung.
Bei geistig behinderten Menschen ist die Diagnose einer PTBS besonders schwierig zu stellen, da das eigene Erleben oft von den Betroffenen nicht gut geschildert werden kann und der Arzt auf die Beschreibung und Beobachtung der umgebenden Personen angewiesen ist. Die Diagnose ist aber extrem wichtig, da entsprechende Trigger zu einem herausfordernden Verhalten führen können. Die Grundlage oder Ursache des herausfordernden Verhaltens ist ein Zurückfallen ins Trauma oder in ein Traumakompensationsschema.
Ins Trauma zurückfallen bedeutet Kampf-, Fluchtreaktion oder Apathie, Traumakompensationsschema bedeutet: Die Psyche schreibt ein reflexartiges, unfreies, nicht frei wählbares Programm, um zu verhindern, dass der Betroffene jemals wieder in eine solche Situation kommen kann oder solche traumaassoziierten Gefühle erleiden muss.

Ein solches Trauma-Kompensationsprogramm kann beispielsweise folgendermaßen aussehen: Ich zeige mich grausam, um niemals wieder verletzt zu werden. Weil mich alle nicht riechen können, wasche ich mich nicht mehr. Weil ich nicht liebenswert bin, verhalte ich mich nicht liebenswert. Weil mir sowieso niemand glaubt, lüge ich…etc.
Ein Traumakompensationsschema auf FEM übertragen könnte heißen: Ich bin so gefährlich, dass ich wie ein Verbrecher eingeschlossen werden muss, also verhalte ich mich auch so, mache Dinge kaputt oder schubse meine Mitbewohner.
Trigger können äußere Anlässe, aber auch Selbstüberzeugungen sein. Wenn ein Trigger ausgelöst wird, kann der Betroffene ins Trauma zurückfallen oder ein Traumakompensationsschema entwickeln.

Die Therapie

Die Therapie der PTBS wird in den AWMF-Leitlinien beschrieben. Die AWMF ist das relevante Netzwerk der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften in Deutschland. Bezüglich der PTBS ist die federführende Fachgesellschaft die Deutschsprachige Gesellschaft für Psychotraumatologie e.V. (DeGPT).
In der S3-Leitlinie, Version 19.12.2019, wird keine Therapie explizit für geistig behinderte Menschen beschrieben. Für erwachsene Menschen ist die „Behandlung erster Wahl die traumafokussierte Psychotherapie, bei der der Schwerpunkt auf der Verarbeitung der Erinnerung an das traumatische Ereignis und/oder seiner Bedeutung liegt.“
Einen Therapieplatz für eine traumafokussierte Psychotherapie zu bekommen ist in Deutschland extrem schwierig, für einen geistig behinderten Menschen faktisch unmöglich.
Die Leitlinie sagt „ergänzend zu traumafokussierten Interventionen sollen weitere Problem- und Symptombereiche abgeklärt und in der Behandlung berücksichtigt werden wie z.B. das Risiko weiterer Viktimisierung bei Opfern von Gewalt, Trauerprozesse, soziale Neuorientierung, Neubewertung, Selbstwertstabilisierung. …Eine Psychopharmakotherapie soll weder als alleinige noch als primäre Therapie der Posttraumatischen Belastungsstörung eingesetzt werden.“
Zusätzlich zur Psychotherapie können „Ergotherapie, Kunsttherapie, Musiktherapie, Körper- und Bewegungstherapie oder Physiotherapie in einem traumaspezifischen multimodalen Behandlungsplan angeboten werden“.

Zusammenfassend kann gesagt werden,  dass es für geistig behinderte Menschen in Deutschland keine evidenzbasierte Behandlungsleitlinie gibt. Klar ist, dass eine zusätzliche Traumatisierung wie auch Trigger unbedingt vermieden werden müssen und eine Stabilisierung des Selbstwerts bei den Betroffenen durch ein wertschätzendes Umfeld von zentraler Bedeutung und zielführend ist.