Rechtsgrundlagen und deren Umgehung

Für den juristischen Laien ist es extrem schwierig zu verstehen oder zu wissen, was ist rechtmäßig und was ist unrechtmäßig bezüglich freiheitsentziehender Maßnahmen.

Ist es rechtmäßig, aus Kosten- und Personalgründen einen Menschen in Deutschland nachts oder zu Tagzeiten in seinem Zimmer einzuschließen, weil nicht ausreichend Personal zur Verfügung steht? Nach unserem laienhaften Rechtsverständnis ist dies nicht zulässig. Und trotzdem wird dies praktiziert. Trotz ausführlicher Literaturrecherche ist uns nicht bekannt, bei wie vielen Menschen diese Praxis Anwendung findet. Was wir allerdings wissen ist, dass bei unserem Sohn dies über fast acht Jahre in einer Einrichtung so passiert ist. Mit ausreichendem Personal in der Einrichtung wären die immer wieder geschehenen Zimmereinschlüsse nie erforderlich gewesen.

Fragen, die wir uns täglich stellen müssen

  • Ist es rechtmäßig, dass der Bezirk Oberbayern uns geschlossene Einrichtungen zur Unterbringung unseres Sohnes vorschlägt, bei denen wir als Betreuer einen Antrag auf freiheitsentziehende Maßnahmen stellen müssen, obwohl unser Sohn unter seiner jetzigen Betreuung sich nicht selbst gefährdet? Dürften wir als Betreuer diesen Antrag überhaupt beantragen?
    Da uns diese Rechtslage nicht klar ist, haben wir beim zuständigen Betreuungsgericht nachgefragt. Dort wurde uns mitgeteilt, dass man uns hierbei nicht beratend zur Seite stehen könne.
  • Ist es rechtmäßig, einen geistig behinderten Menschen in einer geschlossenen Einrichtung unterzubringen ohne richterliche Genehmigung, wenn man ihm einen Schlüssel zur Verfügung stellt?
    Dies wurde uns von einer Einrichtung vorgeschlagen. Nach unserem laienhaften Rechtsverständnis ist das eine Umgehung der Rechtsgrundlagen, insbesondere deshalb, weil unser Sohn den Schlüssel nach wenigen Minuten verlegt oder verloren hätte.
  • Wann gelten Medikamente als FEM?
    Interessant ist hierzu folgender Text des Werdenfelser Weges:
    https://www.werdenfelser-weg-original.de/medikamente-werden-oft-nicht-als-fixierung-angesehen/
    Unsere Fachtagung beschäftigte sich am 22. Juli 2016 mit der medikamentösen Fixierung in der Pflege. Hier habe sich ein Graubereich gebildet, in dem oft gar nicht geprüft wird, ob eine richterliche Erlaubnis für die Maßnahmen vorliegt, lautete eine der Kernaussagen des 4. Fachtages Werdenfelser Weg in München, zu der die beiden Begründer des Werdenfelser Weges, Dr. Sebastian Kirsch und Josef Wassermann, geladen hatten. Jeder dritte Pflegebedürftige erhalte ungeeignete Medikamente, ohne dass darüber innerhalb des Faches oder darüber hinaus eine Diskussion entstünde, sagte Josef Wassermann. Auch Bayerns Gesundheits- und Pflegeministerin Melanie Huml (CSU) äußerte sich zu dem Thema: „Zwar können Psychopharmaka für pflegebedürftige Menschen sehr hilfreich sein, wenn sie richtig und sinnvoll angewendet werden. Es gibt aber die Sorge, dass ruhiggestellte, apathische Bewohner das Bild vom Leben in Pflegeheimen prägen. Deshalb ist es mir ein Anliegen, dass über dieses Thema offen und sachlich diskutiert wird.“
  • Wie ist der §13 im SGB XII zu sehen – der sogenannte Mehrkostenvorbehalt?
    Der § 13 besagt, ambulante Leistungen haben Vorrang vor teilstationären und stationären Leistungen, allerdings gilt dieser Vorrang nicht, wenn eine Leistung für eine geeignete stationäre Einrichtung zumutbar und eine ambulante Leistung mit unverhältnismäßigen Mehrkosten verbunden ist. Sollte die stationäre Einrichtung unzumutbar sein, dann „ist ein Kostenvergleich nicht vorzunehmen.“
  • Wie viele behinderte Menschen müssen in eine stationäre Einrichtung, eventuell sogar in einer geschlossenen Einrichtung leben, obwohl sie das nicht wollen, es dem Gericht aber zumutbar scheint?
    Das bayerische Landessozialgericht schreibt hierzu am 1.12.2020 in dem Beschwerdeverfahren unseres Sohnes gegen den Bezirk Oberbayern folgenden Text:
    „Das Tatbestandsmerkmal der Zumutbarkeit ist ein unbestimmter Rechtsbegriff, der damit der vollen gerichtlichen Überprüfung unterliegt. Eine persönliche Unzumutbarkeit ist dann anzunehmen, wenn bei der Leistungserbringung in einer stationären Einrichtung unmittelbare Gefahren für Leib und Leben der Leistungsberechtigten Person drohen (etwa bei ernsthaften Suizidabsichten). Gleiches kann gelten bei einem Verlust der sozialen Gemeinschaft sowie bei dem Verweis eines jungen pflegebedürftigen Leistungsberechtigten auf ein Altersheim. Auch eine dauerhafte und langjährige Verwurzelung im bisherigen Lebensbereich sowie das Herausreißen aus dem bisherigen örtlichen Lebensbereich können im Einzelfall eine persönliche Unzumutbarkeit im Sinne des§ 13 Abs. 1 Satz 5 SGB XII begründen (Hohm in Schellhorn/Hohm/Scheider/Legros, Kommentar zum SGB XII, 20. Aufl., § 13 RdNr 12 f.).“

Wir sind sicher nicht die einzigen Angehörigen, die bezüglich der Zumutbarkeit eine andere Sichtweise als das Gericht haben.
Dafür spricht auch folgender Artikel:
https://web.de/magazine/panorama/mehrkostenvorbehalt-zwingt-paragraf-behinderte-heim-33664342

Auszüge aus dem Artikel:

Mehrkostenvorbehalt: So zwingt ein Paragraf Behinderte ins Heim
§13 im SGB XII. Dieser Paragraf ist für Menschen mit Behinderung, die auf viel Unterstützung angewiesen sind und in ihren eigenen vier Wänden leben möchten, Ursache für schlaflose Nächte. Durch den sogenannten Mehrkostenvorbehalt bewilligen Sozialämter oft nur kostengünstigere Heimplätze, nicht aber das Wohnen in einer eigenen Wohnung mit persönlicher Assistenz. Die Grünen fordern die Abschaffung des Paragraphen. Unsere Redaktion hat mit zwei Betroffenen gesprochen.  … Gleichzeitig aber wird Menschen mit Behinderung in der UN-Behindertenrechtskonvention (2009) das Recht zugesichert, „ihren Aufenthaltsort zu wählen und zu entscheiden, wo und mit wem sie leben, und nicht verpflichtet sind, in besonderen Wohnformen zu leben“. Wie passt das zusammen?
Wenn es nach den Grünen geht, dann gar nicht: Sie fordern die Abschaffung des Mehrkostenvorbehaltes. Die Fraktionsvorsitzende Kathrin Göring-Eckardt und die behindertenpolitische Sprecherin Corinna Rüffer sprechen von einer „Unterstützungsbremse“, wenn „Menschen, die mit Assistenz in ihrer eigenen Wohnung leben möchten, vom zuständigen Sozialamt nur einen Heimplatz finanziert bekommen.“
Die Regelung verletze die Behindertenrechtskonvention in „eklatanter Weise.“ Ihre Forderung: Bis 2030 soll die Hälfte der behinderten Menschen, die bislang auf Heimplätze angewiesen sind, das selbstbestimmte Leben in einer eigenen Wohnung ermöglicht werden.

Unser subjektives juristische Empfinden schließt sich der Sichtweise der Grünen an: Der Mehrkostenvorbehalt sollte abgeschafft werden, weil er die Behindertenrechtskonvention massiv verletzt.
Hier ein Auszug aus dem Impulspapier von Frau Katrin Eckardt-Göring und Frau Corinna Rüffer, 22.3.2019
https://www.gruene-bundestag.de/fileadmin/media/gruenebundestag_de/themen_az/behindertenpolitik/PDF/Impulspapier_barrierefreies_Wohnen.pdf

 

Wo, wie und mit wem ich will – Impulspapier für selbstbestimmtes Wohnen für Menschen mit Behinderungen

Zehn Jahre ist es her, dass am 26. März 2009 die Behindertenrechtskonvention der Vereinten Nationen (UN-BRK) auch in Deutschland in Kraft getreten ist. Ein Meilenstein für behinderte Menschen! Die Konvention stellt klar, dass ihre Teilhabe ein Menschenrecht ist. Sie erfasst alle Lebensbereiche: Barrierefreiheit, persönliche Mobilität, Gesundheit und Rehabilitation, Bildung, Beschäftigung, Nichtdiskriminierung, Teilhabe am politischen und gesellschaftlichen Leben. Alle staatlichen Ebenen der Bundesrepublik haben sich durch sie verpflichtet, sicher zu stellen, dass Menschen mit Behinderungen ihre Menschenrechte in vollem Umfang wahrnehmen können. Dazu gehört auch das Recht auf ein selbstbestimmtes Leben (Art. 19 UN-BRK).
Für uns selbst eigenständig entscheiden zu können, wie wir unser Leben in allen Facetten gestalten wollen, erscheint für die meisten von uns selbstverständlich. Für viele Menschen mit Behinderung ist es das aber immer noch nicht. Es beginnt beim Wohnen: Wo, wie und mit wem sie leben wollen ist für sie keine Entscheidung, die sie eigenverantwortlich treffen können, sie werden auf vielfältige Weise daran gehindert. Dies passiert zum Teil direkt und mit Absicht, etwa wenn ihnen Assistenz- oder andere Unterstützungsleistungen verweigert oder erst nach quälend langen, aufwändigen Verfahren bewilligt werden. Vor allem wenn sie zum Leben viel Unterstützung brauchen, zahlt der Staat häufig nur einen Platz in einem Wohnheim. Aktuell leben rund 200.000 behinderte Menschen in Wohneinrichtungen.
Seit Inkrafttreten der UN-BRK ist die Zahl sogar um fast 20 Prozent gestiegen. Das Leben dort ist selbst in den grundlegendsten Lebensbereichen mit Einschränkungen verbunden.

Wenn auch Sie einen Fall kennen, bei dem Ihnen Ihr Rechtsverständnis sagt, hier wird das Recht umgangen, würden wir uns freuen, diesen hier aufzulisten. Schreiben Sie uns!