Häufige Wohn- und Lebensform in Oberbayern

Menschen mit Assistenzbedarf und herausforderndem Verhalten leben in Oberbayern häufig in sogenanntem Intensivwohnen, meist als Gruppe in einem geschützten, geschlossenen Bereich.

Intensivwohngruppen bestehen aus bis zu acht Personen mit unterschiedlichen Diagnosen und meist mit massiven Verhaltensauffälligkeiten. In Oberbayern gibt es neun derartige Einrichtungen, finanziert von sieben Trägern. Im Jahr 2020 lebten circa 200 Bewohner in diesen Einrichtungen. Was leider nicht bekannt ist, ob die Betroffenen gerne im Lebensraum Intensivwohnen leben und wie viele Betroffene in anderen Wohnformen untergebracht sind.

Kritische Expertenstimmen

Einer Stellungnahme von Prof. Dr. Ingmar Steinhart von 2017, hauptsächlich bezogen auf chronisch psychisch kranke Menschen, ist Folgendes zu entnehmen:

„So geben in einer Befragung von 1800 Hilfe-EmpfängerInnen der Eingliederungshilfe weniger als 50 % der Menschen, die Leistungen in Heimen erhalten, an, dass sie frei entscheiden konnten, ob sie dort leben wollen (Steinhart et al. im Druck) und nur 40 % der Heimbewohner gaben an, dass sie die Gestaltung des Alltages selbst bestimmen können.“ (Quelle zitiert aus https://www.ethikrat.org/fileadmin/PDF-Dateien/Veranstaltungen/anhoerung-23-02-2017-fragenkatalog-steinhart.pdf)

Es ist leider nicht anzunehmend, dass bei geistig-behinderten Menschen der Prozentsatz höher wäre.

Beim Fachtag „Lebensqualität in Intensivwohngruppen für erwachsene Menschen mit geistiger Behinderung und herausforderndem Verhalten“ des Bezirks am 19.7.2019 äußerten die Experten dieser Tagung folgende kritische Gedanken zum Intensivwohnen in Oberbayern:

  • Bisher keine Förderung von kleinen Wohngruppen
  • Spezialgruppen mit Personen mit herausfordernden Verhalten „produzieren“ auffällige Verhaltensweisen
  • Auch in Deutschland braucht es 4-er Gruppen im Wohnen und eine personelle Aufstockung
  • Gelder müssen erhöht werden
  • Zu wenige Fachdienststunden, um Teams adäquat zu begleiten
  • Zeit für inhaltliche reflexive Praxis fehlt oft
  • Wenig Flexibilität, kein 2. Lebensbereich für Klienten im Intensivwohnen

(Quelle der Zitate aus: https://www.bezirk-oberbayern.de/Soziales/Sozialplanung/Fachtage/Lebensqualit%C3%A4t-in-Intensivwohngruppen-#Vortr%C3%A4ge)

Die Präsentation „Pädagogische Konzeptionen in der Arbeit mit geistig behinderten Personen und herausforderndem Verhalten“ von Prof. Dr. Georg Theunissen beim Fachtag 2019 des Bezirks Oberbayern hatte unter anderem folgende Aussagen:

  • Im Unterschied zu vielen anderen (führenden) westlichen Industrienationen ist festzustellen, dass hierzulande bislang kaum auf eine empirisch nachgewiesene Wirksamkeit von Maßnahmen in Bezug auf den Umgang mit herausforderndem Verhalten bei Menschen mit sogenannter geistiger Behinderung Wert gelegt wird.
  • International wird das Wohnen unter präventiven Gesichtspunkten gesehen und bereits als Bestandteil eines Unterstützungskonzepts zur Vermeidung, zum Abbau oder gar zur Auflösung von herausforderndem Verhalten betrachtet. Diese „primäre Prävention“ fußt auf der Erkenntnis, dass Wohn- und Lebensbedingungen auf die Entwicklung und das Verhalten eines Menschen Einfluss nehmen und dass kleinste Wohnformen mit dem höchsten Grad an Selbstbestimmungsmöglichkeiten am ehesten zur Prävention, zum Abbau oder gar zur Auflösung von herausforderndem Verhalten beitragen können.
  • Einer reaktiven, aversiven oder rein restriktiven Praxis (Timeout) wird unmissverständlich eine Absage erteilt. Statt reaktiv sollte proaktiv interveniert werden!

(Quelle der Zitate aus: https://www.bezirk-oberbayern.de/Soziales/Sozialplanung/Fachtage/Lebensqualit%C3%A4t-in-Intensivwohngruppen-#Vortr%C3%A4g)

 

Die oben genannten Befragungen und Studien werden durch die Publikationen der Hochschule Luzern bestätigt:

  • Nicht auf Menschen mit herausforderndem Verhalten spezialisierte Einrichtungen „verzichten eher ganz auf den Einsatz von FBM“ (Anmerkung: Freiheitsbeschränkende Maßnahmen).
  • „Auch die Anzahl der Bewohnenden steht in einem signifikanten Zusammenhang damit, ob FBM in Eskalationssituationen angewendet werden oder nicht.“
  • Institutionen mit weniger als 11 Bewohnern wenden keine FBM an. Die meisten Institutionen mit mehr als 80 Bewohnern wenden FBM an.

Quelle: https://szsa.ch/ojs/index.php/szsa-rsts/article/view/235/210 

 

Unser Eindruck:
Die oberbayerische Unterbringungs-Praxis für Menschen mit herausforderndem Verhalten ist wenig förderlich

Als besonders bedenklich empfinden wir die Widersprüchlichkeit in den Präsentationen des genannten Fachtages des Bezirks Oberbayern 2019.  Einerseits die Darstellung von Prof. Theunissen, die besagt, dass reaktive Methoden wie Time-out international (z. B. in Ländern wie USA, Kanada, Australien, Irland, Schweden) klar abgelehnt werden. Im Gegensatz dazu steht der Praxisbericht des Leiters der Einrichtung Dr. Loew Soziale Dienstleistungen Haus Ebrach, Thomas McWilliams, der in den Vorträgen zu finden ist.
(Quelle: https://www.bezirk-oberbayern.de/Soziales/Sozialplanung/Fachtage/Lebensqualit%C3%A4t-in-Intensivwohngruppen-#Vortr%C3%A4ge)

Der Einrichtungsleiter benennt hier als Vorbereitung für eine Bewohneraufnahme eine räumliche Anpassung der Gruppe mit einem Fixierzimmer. Wie viele Fixierungen stattgefunden haben oder wie und ob das pädagogische Konzept zu einer Reduzierung von Fixierungen geführt haben, wird leider mit keinem Wort erwähnt.

Anhand unseren eigenen Erfahrungen in Kombination mit den Erkenntnissen aus der spärlich vorhandenen Literatur kommt klar zu Tage: Die Unterbringungspraxis für Menschen mit herausforderndem Verhalten wirkt sich eher kontraproduktiv auf die Betroffenen aus. Das Leben in Spezialgruppen ist wenig förderlich für die Reduktion von herausforderndem Verhalten. Alleine schon aus dem Grund, da der Nachahmungseffekt beim Zusammenwohnen von Betroffenen das herausfordernde Verhalten verstärkt.  Ebenso unvorteilhaft wirken sich große Gruppengrößen mit mehr als vier Personen auf die Betroffenen aus. Der gravierendste Faktor in Bezug auf die Kontraproduktivität bei derartiger Praxis ist allerdings der Einsatz von freiheitsentziehenden Maßnahmen, wie sie in oberbayerischen Einrichtungen Anwendung finden.