Unsere Lebens- und Wohnvision

Konzeptionell anders denken und ein Pilotprojekt starten!

Der wissenschaftliche Stand Januar 2021

Nach unserer Recherche hat im deutschsprachigen Raum vor allem Prof. Dr. Georg Theunissen viel Wissen zusammengetragen. Wir werden ihn von daher häufig zitieren.

In seinem Buch „Autismus und herausforderndes Verhalten“, 2019, schreibt er, dass

  • herausforderndes Verhalten auf die Lebensbedingungen und Situationen bezogen ist
  • effektive Verhaltensprogramme die individuellen Stärken im Fokus haben
  • nicht-bestrafende (=non-aversive) Strategien effektiver als bestrafende oder einschränkende Strategien sind.

Aus seinem Vortrag vom 10.7.2019 im Rahmen des Fachtages „Lebensqualität in Intensivwohngruppen für erwachsene Menschen mit geistiger Behinderung und herausforderndem Verhalten“ und seinem umfassenden Forschungsprojekt „Menschen mit geistiger oder mehrfacher Behinderung und sogenannten herausfordernden Verhaltensweisen in Einrichtungen der Behindertenhilfe in Baden-Württemberg“ (2016-2019) entnehmen wir folgende wichtige Informationen, die zu unseren eigenen Erfahrungen passen (Quelle: https://www.kvjs.de/fileadmin/publikationen/Forschung/Herausforderndes_Verhalten_Internet.pdf):

  • Menschen mit herausforderndem Verhalten werden häufig sozial isoliert. In Deutschland wird kaum auf ein empirisch nachgewiesen wirksames Konzept oder Methoden geachtet.
  • In den von Prof. Dr. Theunissen international untersuchten Ländern werden kleine Wohnformen präferiert: unterstütztes Einzelwohnen, Wohnen zu zweit, kleine Wohngruppen (3 Plätze) oder größere Wohngruppen (4 bis 6 Plätze) in einem Gemeinwesen. Wohnen in großen Wohngruppen, Heimen oder Komplexeinrichtungen wirken nicht präventiv oder auflösend bezüglich dem herausfordernden Verhalten.
  • Die untersuchten Länder bevorzugen das Wohnen in der Herkunftsgemeinde, um den Verlust von Beziehungen zu vermeiden.

Unser Fazit: In Deutschland, vor allem in Oberbayern, ist ein Umdenken dringend nötig!
Inklusion in kleine Gruppen oder assistiertes Einzelwohnen mit ressourcenorientiertem und empirisch nachgewiesen wirksamem Konzept in der Heimatgemeinde ist zielführend. Das wie in Oberbayern praktizierte Unterbringen in heimatfernen Einrichtungen mit Restriktionen (freiheitsentziehenden Maßnahmen) und die Zusammenballung von Menschen mit herausforderndem Verhalten dagegen kontraproduktiv. Das Augenmerk muss klar darauf gerichtet sein, ein Verhaltensauffälligkeiten reduzierendes, statt verstärkendes Konzept zu implementieren. Darüber hinaus muss dieses Konzept, ganz der UN-Behindertenkonvention entsprechend, mit einer klaren Selbstbestimmungsmöglichkeit für die Betroffenen ausgestattet sein. Es kann nicht sein, dass, wie in Oberbayern leider stattfindend, einem Betroffenen die Wahlmöglichkeit für den eigenen Lebensort genommen wird.

 

Unsere Vision – die reelle Umsetzung von Artikel 19 der UN-Behindertenkonvention

Artikel 19 der UN-Behindertenkonvention fordert eine unabhängige Lebensführung und Einbeziehung in die Gemeinschaft. Die Vertragsstaaten dieses Übereinkommens anerkennen das gleiche Recht aller Menschen mit Behinderungen, mit gleichen Wahlmöglichkeiten wie andere Menschen in der Gemeinschaft zu leben, und treffen wirksame und geeignete Maßnahmen, um Menschen mit Behinderungen den vollen Genuss dieses Rechts und ihre volle Einbeziehung in die Gemeinschaft und Teilhabe an der Gemeinschaft zu erleichtern, indem sie unter anderem gewährleisten, dass:

  1. Menschen mit Behinderungen gleichberechtigt die Möglichkeit haben, ihren Aufenthaltsort zu wählen und zu entscheiden, wo und mit wem sie leben, und nicht verpflichtet sind, in besonderen Wohnformen zu leben;
  2. Menschen mit Behinderungen Zugang zu einer Reihe von gemeindenahen Unterstützungsdiensten zu Hause und in Einrichtungen sowie zu sonstigen gemeindenahen Unterstützungsdiensten haben, einschließlich der persönlichen Assistenz, die zur Unterstützung des Lebens in der Gemeinschaft und der Einbeziehung in die Gemeinschaft sowie zur Verhinderung von Isolation und Absonderung von der Gemeinschaft notwendig ist;

Menschen mit herausforderndem Verhalten könnten, je nach Bedürfnis, einzeln unter Zuhilfenahme von persönlicher Assistenz oder in kleinen Gruppen mit Mitbewohnern ohne herausforderndes Verhalten leben. Die Inklusion eines Bewohners mit herausforderndem Verhalten in eine „normale“ Gruppe halten wir für den Betroffenen und auch für die Mitarbeiter am sinnvollsten. Der Bewohner mit herausforderndem Verhalten kann von den Mitbewohnern ein sozial angepasstes Verhalten lernen und keine anderen herausfordernden Verhaltensweisen. Die Mitarbeiter kommen in einer so gemischten Gruppe weniger schnell an ihre Grenzen oder in eine Burn-out-Situation.  

Das Wohnen in der Heimatgemeinde oder unmittelbarer Nähe ermöglich dem Betroffenen das Fortführen von familiären und freundschaftlichen Beziehungen und vermittelt dadurch Stabilität und Sicherheit.

Ein sinnvolles (Mit)Arbeiten z.B. in der Land- oder Forstwirtschaft o.ä. sollte möglich sein. Derartige Beschäftigungen mit Erfolgserlebnissen stabilisieren das Selbstwertgefühl. Zudem sollte evidenzbasierten Methoden der Vorzug gegeben werden, wie beispielsweise ressourcen- oder stärkeorientierte, nicht-aversive Methoden, Musiktherapie, regelmäßige sportliche Aktivitäten und Entspannungsverfahren.

Wünschenswert wäre die fundierte wissenschaftliche Begleitung eines derartigen Pilotprojektes, so dass bei entsprechendem Erfolg die Konzeption auf andere Einrichtungen übertragbar wäre. Das Lernen von Interessierten sollte im Pilotprojekt möglich sein, denn so könnten sich etablierte Einrichtungen mit entsprechend finanziertem Personalschlüssel der dringend notwendigen Aufgabe stellen, Menschen mit herausforderndem Verhalten aufzunehmen und zu integrieren.

 

Menschen mit Leuchtturm-Funktion geben Stabilität

Viele der Einrichtungen, mit denen wir gesprochen haben, würden gerne Menschen mit herausforderndem Verhalten aufnehmen. Dieser Wunsch scheitert stets an Personalmangel,  dem Mangel an qualifizierten Mitarbeitern und der fehlenden finanziellen Unterstützung durch die Leistungsträger. Nach unserem Dafürhalten werden in den Einrichtungen Mitarbeiter benötigt, die eine Leuchtturm-Funktion erfüllen. „Leuchttürme“ sind Menschen, die dem Betroffenen das Gefühl vermitteln, „egal was Du tust, zu zweit schaffen wir das gemeinsam.“ Das hört sich leicht an, ist aber extrem schwer zu erreichen, denn diese Anforderung an die Mitarbeiter ist hoch. Es müssen Menschen sein, die sich selbst gut kennen, sich selbst analysieren und reflektieren können, ihre Gefühle zuordnen können, kurz: Mitarbeiter, die authentisch und in ihrer Mitte verhaftet sind.

Wir verweisen auf den Vortrag von Herrn Peter Kraus am 8.11.2017 am Fachtag „Bis hierher…. und wie weiter?“ des Bezirkes Oberbayern. Hierin beschreibt Peter Kraus, wie sich ein steigendes Stresslevel des Mitarbeiters auswirken kann. Es kann zu Angstgefühlen, Aggressivität und Hilflosigkeit kommen, die ein Bestrafungs- und Kontrollbedürfnis auslösen und in einem Kontrollverlust und Affektsturm münden können (Vortrags-Quelle: https://www.bezirk-oberbayern.de/Soziales/Sozialplanung/Fachtage/Behinderung-und-herausforderndes-Verhalten).

Zudem müssen die Mitarbeiter in der Lage sein, den Betroffenen auf Augenhöhe zu begegnen. Sie müssen den Betroffenen als Bereicherung für sich selbst erleben können. Menschen mit herausforderndem Verhalten sind oft besonders sensibel und erkennen sofort, wenn ihnen nicht auf Augenhöhe begegnet wird oder diese nur gespielt ist. Ein solcher Augenhöhenverlust oder eine Nichtwertschätzung können mit herausforderndem Verhalten beantwortet werden.

Der „Leuchtturm“ muss zu seinem sicheren Stand und seinem Empathievermögen auch einen analytischen Verstand, Humor und Kreativität zeigen können. Ganz besonders wichtig ist die Fähigkeit zum Reset: „Okay, das Geschirr ist geflogen, wir fangen neu an.“
 „Wenn der Betreuer in einer Grenzsituation ins Wanken gerät, dann wankt der behinderte Mensch mit auffälligem Verhalten noch viel stärker. (…) Da er sich selbst nicht trauen kann, muss er sich wenigstens auf andere verlassen können. (…) Wenn die Betreuer sich unsicher fühlen, (…), kann man fast sicher vorhersagen, dass der behinderte Mensch ein problematisches Verhalten zeigen wird. Ist der Betreuer ängstlich, wächst die Wahrscheinlichkeit noch.“  Jacques Heijkoop, 2014

 

Finanzierungsmöglichkeiten – das Persönliche Budget

Möchte ein behinderter Mensch selbstständig mit Assistenz leben, alleine oder in einer kleinen Wohngemeinschaft, kann er bzw. sein gesetzlicher Betreuer den Antrag auf ein trägerübergreifendes persönliches Budget stellen. Dazu schreibt der Bezirk Oberbayern auf seiner Webseite: „Das Persönliche Budget ist eine Form der Finanzierung von Hilfen zur Teilhabe am Leben in der Gesellschaft für Menschen mit Behinderungen und pflegebedürftige Menschen. Das Budget wird Ihnen in Form eines Geldbetrages zur Verfügung gestellt. Sie können damit die erforderlichen Hilfen auswählen und selbst „einkaufen“. Wann, wie oft und durch wen Sie die benötigten Leistungen in Anspruch nehmen wollen, bestimmen Sie selbst. Das Persönliche Budget bietet Ihnen die Möglichkeit, ein eigenständiges und selbstbestimmtes Leben zu führen.

  • Wer kann ein Persönliches Budget bekommen? Ein Persönliches Budget können Sie erhalten, wenn Sie wesentlich behindert oder von einer wesentlichen Behinderung bedroht und/oder pflegebedürftig sind….
  • Wofür können Sie Ihr Persönliches Budget einsetzen? Mit Ihrem Persönlichen Budget können Sie alle Teilhabeleistungen in Anspruch nehmen und bezahlen, die geeignet sind, Ihren behinderungsbedingten Bedarf in folgenden Bereichen abdecken: Arbeit, Beruf, Bildung, Wohnen, Freizeit, Kommunikation, Mobilität….
  • Wie hoch ist das Persönliche Budget? Die Höhe Ihres Persönlichen Budgets richtet sich nach Art, Form und Umfang der Leistungen, die geeignet und erforderlich sind, um Ihren individuell festgestellten Bedarf zur Teilhabe zu decken, die Pflege sicherzustellen und die vereinbarten Ziele zu erreichen. …
  • Wie kommen Sie zu Ihrem Persönlichen Budget? Um ein Persönliches Budget zu erhalten, müssen Sie bei einem Rehabilitationsträger, zum Beispiel beim Bezirk Oberbayern, oder einer Gemeinsamen Servicestelle einen Antrag stellen…“

Wie auf der Webseite des gemeinnützigen Vereines ForseA e.V. beschrieben wird, gibt es im ambulanten Bereich zwei Möglichkeiten, um das Assistenzmodell zu realisieren: das Arbeitgebermodell oder der ambulante Dienst. Für Menschen mit herausforderndem Verhalten gibt es selten Pflegedienste, die auch pädagogische Mitarbeiter beschäftigen. Deshalb empfiehlt es sich für Menschen mit herausforderndem Verhalten, dass ihre gesetzlichen Betreuer nach geeigneten Mitarbeiter suchen.

Informationen zum Arbeitgebermodell finden Sie auf: http://www.forsea.de/ForseA_Dateien/AGM_und_PB.pdf